Emmi und Leo, Teil 1
Inhalt:
Gibt es in einer vom Alltag besetzten Wirklichkeit einen besser geschützten Raum für gelebte Sehnsüchte als den virtuellen? Bei Leo Leike landen irrtümlich E-Mails einer ihm unbekannten Emmi Rothner. Aus Höflichkeit antwortet er ihr. Und weil sich Emmi von ihm angezogen fühlt, schreibt sie zurück. Bald scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann es zum ersten persönlichen Treffen kommt, aber diese Frage wühlt beide so sehr auf, dass sie die Antwort lieber noch eine Weile hinauszögern. Außerdem ist Emmi glücklich verheiratet. Und Leo verdaut gerade eine gescheiterte Beziehung. Und überhaupt: Werden die gesendeten, empfangenen und gespeicherten Liebesgefühle einer Begegnung standhalten? Und was, wenn ja?
Kommentar:
Leo über seine Ängste bzgl. eines Treffens:
»Wir starten von der Ziellinie weg und es gibt nur eine Richtung: zurück. Wir steuern auf die große Ernüchterung zu. Wir können das nicht leben, was wir schreiben. Wir können die vielen Bilder nicht ersetzen, die wir uns voneinander ausmalen. Es wird enttäuschend sein, wenn Sie hinter der Emmi zurückbleiben, die ich kenne. Und Sie werden dahinter zurückbleiben … «Antwort Emmi:
»Und täglich sterben Hunderte Tierarten aus.«
Zum Einstieg ein kleines Outing: Ich kenne die Situation, die Emmi und Leo durchleben, sehr gut – und zwar aus erster und aus zweiter Hand. Insofern hat mich dieser E-Mail-Roman natürlich sehr interessiert und ich kann vollkommen nachvollziehen, wie es den beiden ergeht: Wie sie unverhofft aufgrund einiger schöner Worte und Kommentare ein Interesse aneinander entwickeln; wie schnell der Mailkontakt enger und essentieller Bestandteil des täglichen Lebens wird; wie sie sich schließlich ineinander verlieben, ohne das zu wollen; dass sie sich unbedingt treffen wollen, aber Angst davor haben, weil ein Treffen alles zerstören könnte; dass sie sich ab einem gewissen Punkt nur noch im Kreis drehen, weil nichts voran geht und die Situation immer unerträglicher wird; dass sie versuchen, sich zurückzuziehen und die selbstgeschaffene Distanzierung nicht lange durchhalten; dass am Ende eine Entscheidung getroffen werden muss, die einen reinen Online-Kontakt auf irgendeine Weise beendet. Die Entwicklung der Beziehung inklusive des fast besessenen Kreisens um das Thema Treffen und all der damit verbundenen Ängste halte ich für äußerst realistisch; Leo bringt es an einer Stelle auf die Frage, was er denn zu verlieren habe, wunderbar auf den Punkt: »Erstens: Sie. Zweitens: Mich. Drittens: Uns.«
Für weit weniger realistisch halte ich allerdings die Tatsache, dass sich ein Mann wie Leo – beziehungsgeschädigt, aber klug, sanft, gutaussehend, wortgewandt, manchmal etwas realitätsfern, verklärt und pathetisch (»Emmi schreiben ist Emmi küssen.«) und mit Hang zum Seelenstriptease nach zu viel Alkoholgenuss (»Welche Frauen mir gefallen? Frauen, die so aussehen, wie Sie schreiben.«) – ausgerechnet in eine Frau wie Emmi verliebt. Anfangs fand ich ihre scharfzüngige, zynische Art noch faszinierend und ziemlich amüsant, nach einer Weile allerdings ist sie mir nur noch auf die Nerven gegangen. Emmi vereint so ziemlich alle negativen Eigenschaften in sich, die ich absolut nicht leiden kann, sie ist: arrogant, zickig, aggressiv, schnippisch, unverschämt, egoistisch, eifersüchtig, taktlos, belehrend, vereinnahmend, paranoid, wankelmütig, oberlehrerhaft, neurotisch, herablassend, rechthaberisch, kindisch, melodramatisch, besitzergreifend, ständig stichelnd, negativ, oberflächlich (aussehensfixiert), manipulativ. Zudem ist sie eine dieser selbsternannten Männerversteherinnen mit feministischem Touch, die besser als jeder Mann wissen, wie Männer sind (sexfixiert, im Wesentlichen). Dass sie ihre beste Freundin Mia schlecht macht, lässt Emmi auch nicht gerade in meinem Ansehen steigen – bei allem Verständnis für Eifersucht.
Ich stand nach etwa siebzig Seiten da, fand die ganze Situation zwar realistisch, aber das ständige Kreiseln um die Frage »Wo soll das alles hinführen? Sollen wir uns treffen oder lieber nicht?« zu diesen Zeitpunkt auch schon ziemlich nervig. Ich hab die weibliche Hauptperson von Seite zu Seite mehr gehasst und mich permanent gefragt, wieso sich Leo nur so heftig in eine Frau verliebt, die das Zuckerbrot-und-Peitsche-Spielchen in konkurrenzloser Perfektion betreibt. (Wahrscheinlich ist die Frage falsch und genau dieses Verhalten macht sie so interessant für ihn.) Ich war wirklich kurz davor, das Buch abzubrechen, hab dann aber beschlossen, noch mal kurz ins hochgelobte Hörbuch reinzuhören, gelesen von Andrea Sawatzki und Christian Berkel. Was soll ich sagen; die beiden haben die Geschichte für mich gerettet – ich konnte gar nicht mehr aufhören und hab das Audiobook an einem Stück zuende gehört, so unterhaltsam fand ich den Vortrag der beiden. Das bedeutet nicht, dass Emmi ihre oben aufgezählten schlechten Eigenschaften abgelegt hätte, aber dank Sawatzkis Interpretation kommt die Figur im Hörbuch nicht mehr ganz so negativ bei mir an wie ich sie mir gelesen habe; Sawatzki macht sie erträglich. Und Berkel als Leo … der könnte mir ein Telefonbuch vorlesen und ich würde weiche Knie kriegen!
Zuletzt noch: Dass sich Emmi und Leo bis fast zum Schluss siezen, ist mehr als unrealistisch. Das würde in Internetzeiten im Rahmen einer solchen Kommunikation garantiert nicht passieren. Außerdem sind mir alle Beteiligten sprachlich zu gewandt und die Mails stilistisch reichlich hochgestochen. Mir ist klar, dass Leo Sprachforscher und deshalb rhetorisch sicher versiert ist, aber trotzdem wirkt die Kommunikation teilweise nicht sehr authentisch.
Fazit:
10/15 – Allerdings nur für die Hörbuchversion und die großartige Interpretation von Andrea Sawatzki und Christian Berkel. Dem Buch hätte ich wohl nicht mehr als 5–7 Punkte gegeben, weil mir der Draht zu Emmi komplett abging und die Geschichte bei aller Realitätsnähe ganz schön ermüdend war.
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Serieninfo:
01 Gut gegen Nordwind (Rezension)
02 Alle sieben Wellen (Rezension)
Interessant mal so eine Meinung über Emmi zu lesen. Habe „Gut gegen Nordwind“ vor einer Weile gelesen. So unsympathisch kam sie mir nicht vor, allerdings habe ich sie mir beim lesen nicht so vorgestellt, wie sie dann laut ihrer bzw. Leos Beschreibung aussehen solle.
Die Wiederholungen sind mir auch aufgefallen, lustigerweise langweilten sie nicht. Ich finde das Buch sehr schön als Urlaubslektüre für Strand und Freibad, da es sich flott und wirklich einfach liest.
Viel unrealistischer fand ich das heimliche Treffen im dem Bahnhofs Kaffee, da hatte ich eher das Gefühl jetzt geht die Phantasie mit dem guten Glattauer durch. Entweder man will sich treffen oder nicht.
Ich weiß, dass ich mit meiner Meinung über dieses Buch ziemlich alleine dastehe – dabei wollte ich es so gerne mögen! Und eigentlich war ich sogar überzeugt davon, dass ich es mögen würde, eben weil mir das Thema sehr nah ist. Aber ich hab wirklich so ne Aversion gegen Emmi entwickelt, ich hätte das Buch am liebsten verfeuert! ;)
Du hast übrigens recht, das heimliche Treffen war wirklich reichlich albern und die »Auflösung« dazu auch.
Ich war ganz begeistert von dem Buch und musste auch sehr viel über die Mails lachen (ganz besonders, wenn Leo betrunken war).
Allerdings habe ich das Buch auch nicht im konventionellen Sinne gelesen… Tatsächlich hat meine Mutter es mir vorgelesen und dabei gab es eben viel zu lachen und das Lesen wurde zum Dialog… vielleicht ist Gut gegen Nordwind nicht dazu geschaffen, einfach nur gelesen zu werden.
Da hast du ja ordentlich Adjektive für Emmi gesammelt xD Stimme dir allerdings bei jedem einzelnen zu. Ich hab es übrigens nicht geschafft das Buch zu beenden, konnte mit den Charakteren einfach nichts anfangen und hab erst recht nicht verstanden, was alle Welt (ganz Deutschland) so toll an diesem Roman findet.
Die Adjektive sind während des Lesens/Hörens nur so auf mich eingeströmt, Miss Bookiverse, ständig ein neues, wenn Emmi wieder am Zug war! ;) Es tut wirklich gut zu hören, dass es noch andere gibt, die das Buch nicht »so so so so so soooo« toll fanden. ;)
Lisa: Vielleicht ist das wirklich so, dass das Buch einfach nur gelesen werden soll (wobei ich glaube, dass viele begeisterte Leser es nur gelesen haben).
Ich hab es übrigens nicht gelesen sondern gehört. Die Vorleser haben das zwar super gemacht, aber das hat das Buch inhaltlich und von den Charakteren her für mich nicht gerettet. In vielen Rezensionen hab ich auch gelesen, dass dieses E-Mail-Format so gelobt wurde und was für eine innovative Idee das wäre. Das fand ich totalen Quatsch. Gut gegen Nordwind ist nun wirklich nicht das erste Buch in Brief/Mailformat.
Oh, du hast es auch gehört … So viel zu unserer tollen Theorie! *gg*